Umziehen hilft, aber wollen Senioren das?

Viele Senioren wohnen in großen Häusern in guter Lage. Wenn sie bereit wären, umzuziehen, könnte dies den festgefahrenen Wohnungsmarkt teilweise wieder flottmachen. Wie bewegen wir diese Senioren zu einem Wohnungswechsel? Fragen wir die Senioren selbst zuerst nach ihren Wohnwünschen, raten diese Experten.
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BPD Magazin 16 Senioren Abma
Foto: Janita Sassen
Tineke Abma

„Unsere Gesellschaft ist nicht auf Senioren, sondern auf Erwachsene ausgerichtet, oder besser gesagt: auf den Auto fahrenden Alleinverdiener. Deshalb haben wir in den Niederlanden breite Straßen und schmale Gehwege. Außerdem stellt der ‚erwachsene Niederländer‘, gegebenenfalls mit Familie, häufig noch immer die Perspektive dar, von der Gebietsentwickler und Architekten ausgehen. Wenn sie für Senioren entwickeln, versuchen sie zwar, sich in die Zielgruppe hineinzuversetzen, aber sie konzentrieren sich (noch) zu wenig darauf, was die Senioren selbst wichtig finden.

Die Gruppe der Senioren ist sehr vielfältig, doch zumindest für die höhere Altersgruppe ist eine angepasste Wohnung in einer Umgebung mit den drei As – Arzt, Apotheke, Albert Heijn [Supermarkt] – wünschenswert. Vielleicht noch wichtiger ist, dass das Wohnumfeld die Möglichkeit bietet, soziale Beziehungen und Kontakte zu pflegen und neu einzugehen. Beim Älterwerden fallen nämlich Familie und Freunde weg, und der soziale Kreis wird kleiner. Diese Perspektive sollten Gebietsentwickler und Architekten viel mehr berücksichtigen. Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie notwendig es ist, die Wünsche von Senioren anzuhören und sich nach ihrer Perspektive auf das Wohnen zu richten. Meine Eltern zogen aus einem Bungalow in eine Wohnung in dem Dorf, in dem sie geboren wurden. Allein schon der Blick auf den Dorfplatz, wo sich das Leben abspielt, mit Läden und Menschen und Geschäftigkeit, machte sie glücklicher. Erst da wurde mir klar, dass sie in ihrem Bungalowviertel, in dem sie in meinen Augen schön gewohnt haben, langsam vereinsamten. Soziale Kontakte waren wichtiger geworden als der Garten.

Mehr von der Perspektive der Senioren selbst ausgehen.
Tineke Abma
außerordentliche Professorin für Seniorenpartizipation Uniklinik Leiden

Das Kollektivhaus

Das Bedürfnis nach sozialen Kontakten lässt sich auf unterschiedliche Weise befriedigen. Für einen Teil der Senioren ist ein gemeinschaftlicher Begegnungsraum ausreichend. Studien haben jedoch ergeben, dass ein solches Wohnkonzept für viele noch einen Schritt weitergehen sollte. Beispiele sind intergenerationelle Wohnkomplexe oder andere Wohnformen, bei denen die Bewohner sich gegenseitig unterstützen. Auf einer Studienreise nach Stockholm sah ich ein schönes Projekt in diesem Sinne, das Senioren selbst erdacht und zusammen mit Architekten und Gemeindemitarbeitern entwickelt haben. In dem sogenannten Kollektivhaus [schwedisch: Kollektivhuset] wohnen vitale und weniger vitale Senioren zusammen. Dabei entsteht eine sehr interessante Wechselwirkung. Die nicht mehr berufstätigen Senioren kochen für jüngere Nachbarn; umgekehrt bringen die noch berufstätigen Senioren Energie und Gesprächsthemen ein und unterstützen die weniger vitalen Senioren bei der Erledigung von Hausarbeiten und helfen bei Arztterminen.“

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Foto: Christoph Papsch
Klaus Pidun

„Leben in einer Gemeinschaft, in der soziale Kontakte zu anderen möglich sind, ohne das selbstständige Wohnen aufzugeben: Das wünscht sich ein Großteil der jetzigen Generation von Senioren. Sie haben Träume für ihren Lebensabend, den sie am liebsten in einem Umfeld sozialer Sicherheit verbringen. Diese Seniorengeneration ist häufig noch sehr vital und mobil. Deshalb nenne ich sie gerne Sportschuhsenioren.

Längst ist es nicht mehr - wie früher - die Familie, die sich um die Senioren kümmert. Die Folge ist häufig Einsamkeit. Große Wohnungen und das Wohnen mit mehreren Generationen unter einem Dach sind für Senioren keine Option mehr. Grund dafür sind die hohen Mieten, aber auch unsere städtische Architektur. Die Verstädterung hat außerdem für viele zu einer Entwurzelung geführt. Bei Wohnungen für Senioren möchte ich daher für das Mehrgenerationenwohnen plädieren. Wir müssen uns wieder verstärkt dem familiären Ansatz widmen. Bewohner leben zusammen und können aufeinander zählen, doch gleichzeitig bleiben ihre Privatsphäre und Eigenständigkeit erhalten. In Deutschland entstehen zum Glück mehrere vielversprechende neue Wohnformen für Senioren. Mehrgenerationenwohnen, Service-Wohnen, Seniorenwohngemeinschaften in Höfen, Einrichtungen für Demenzkranke und Wohnparks: All diese neuen Formen für Seniorenwohnungen haben ihren eigenen Existenzgrund und müssen weiterentwickelt werden.

Sportschuhsenioren suchen Selbstständigkeit und mehr sozialen Kontakt.
Klaus Pidun
Sozialwissenschaftler, Psychotherapeut und Projektentwickler bei der Coop Energie AG in Deutschland

Armut unter Senioren

Wir entwickeln neue Wohnkonzepte für Senioren. In Weißenthurm beispielsweise planen wir ein Mehrgenerationenprojekt, unter anderem mit einem ‚Bürgercafé‘ für die Anwohner. Die große Herausforderung für uns liegt vor allem in der Entwicklung bezahlbarer Wohnkonzepte. Denn nicht nur die Vergreisung in unserem Land nimmt zu, sondern auch die Armut unter den Senioren. Wir experimentieren mit neuen Bauformen wie dem Modulbau. Klimaneutrale Baustoffe und nachhaltige Energiekonzepte sind das Fundament unserer Entwicklungspläne. Ansonsten nutzen wir verschiedene Formen der Digitalisierung in der Wohnumgebung von Senioren. Mit zusätzlicher Kontrolle und Möglichkeiten für eine Kontaktaufnahme verbessern wir das Sicherheitsgefühl und auch die Gesundheitssituation von Senioren. Da diese Sportschuhsenioren in der Regel noch sehr aktiv sind, ist auch Mobilität ein wichtiges Thema. Dabei geht es in erster Linie um eine gute Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, doch für Senioren mit eigenem Auto wird die E-Mobilität immer wichtiger. Denn auch diese Generation nutzt Car-Sharing-Angebote. Und wenn wir schon über Mobilität sprechen: Parkplätze für die vielen Camper, die die Senioren haben, sind ebenfalls ein wichtiges Thema bei der Entwicklung von Wohnraum.“

BPD Magazin 16 Senioren Bisschops
Foto: Janita Sassen
Leo Bisschops

„Manchmal erstaunt es mich, dass Senioren relativ wenig über einen Umzug nachdenken. Sie kennen die Berichte über Demenz – jeder vierte Ältere bekommt sie – und Stürze im Haus. Aber sie beziehen diese Berichte nicht auf sich selbst. Das hat zum einen mit der Generation zu tun, zu der sie gehören: Diese im oder kurz nach dem Krieg geborene Gruppe konnte maximal vom Wohlfahrtsstaat profitieren. Sie ist seit jeher gewohnt, dass der Staat viel für seine Bürger regelt. Dass sich die Zeiten in dieser Hinsicht geändert haben, kommt bei dieser Gruppe möglicherweise nicht an. Zum anderen gibt es auch eine sozialpsychologische Erklärung: Experten können Menschen vor Problemen warnen, aber sie müssen auch eine Alternative haben. Fehlt diese, dann verschließen sie sich. Genau das sehe ich in der Praxis. Senioren können nicht einfach umziehen, weil es zu wenig geeignete Wohnungen gibt. Ihnen fehlt eine Handlungsperspektive.

Über mehr als nur die Wohnung nachdenken.
Leo Bisschops
Vorsitzender bei KBO Brabant

Den Dialog eingehen

Senioren sollten aktiver in die Wohn-Pflege-Aufgabe einbezogen werden. In Brabant [Region in den südlichen Niederlanden] veranstalten wir Gesprächsrunden, in denen Senioren miteinander, aber auch mit der Familie und mit Nachbarn über Wohnfragen sprechen. Diese Gespräche werden auch sehr konkret: Wer hilft dir, wenn du dement wirst? Früher konnten Senioren meistens auf die Unterstützung ihrer Kinder zählen. Doch in Brabant kehrt lediglich ein Viertel der Kinder dorthin zurück, wo sie aufgewachsen sind. Das bedeutet, dass Senioren häufiger alleine zurecht kommen müssen und Hilfe von Dritten brauchen. Sie scheinen dies noch nicht ganz verinnerlicht zu haben. Schließlich haben sie selbst oft bis zum Ende für ihre Eltern m Alter gesorgt. Vielleicht gehen sie unbewusst davon aus, dass es bei ihnen ebenso sein wird.

Ein Großteil der Gemeinden in Brabant hat diese Wohn-Pflege-Aufgabe aktiv aufgegriffen. Mithilfe der Taskforce Wohnen und Pflege wird sowohl auf lokaler als auch (sub-)regionaler Ebene untersucht, wie Wohnen, Pflege und Wohlbefinden für Senioren gewährleistet werden können. Das ist wichtig. Bislang wurde dem Mangel an guten Wohnungen für Senioren auf Landesebene zwar viel Aufmerksamkeit gewidmet, aber die Umsetzung auf die lokale Ebene wird erschwert. Meine Empfehlung lautet, die Senioren einzubeziehen. Auf Senioren abzielende Initiativen sind bereits sehr gut, aber sie könnten noch besser sein, wenn die Verbindung mit dem sozialen Umfeld fest verankert wird. Hier liegen Chancen für Gebietsentwickler, die nicht nur von Wohnungen aus denken, sondern der Umgebung, den Einrichtungen und vor allem der Möglichkeit, soziale Kontakte zu pflegen, einen größeren Wert beimessen. Denn vor allem Letzteres ist für Senioren das Wichtigste.“

BPD Magazin 16 Senioren Ossokina
Foto: Janita Sassen
Ioulia Ossokina

„Es ist bekannt, dass Umzüge bei Senioren selten sind: Das niederländische statistische Zentralamt geht von nur 5 Prozent der gesamten Gruppe pro Jahr aus, während der Anteil der Umzüge für alle Niederländer im Schnitt bei zehn Prozent liegt. Das ist schade. Denn durch einen Umzug in eine kleinere Wohnung, die besser auf ihre Bedürfnisse abgestimmt ist, können Senioren länger selbstständig wohnen, weil beispielsweise die Gefahr von Verletzungen durch Stürze abnimmt. Wenn mehr Senioren einen Umzug wagen würden, könnte das außerdem dabei helfen, den festgefahrenen Wohnungsmarkt wieder in Bewegung zu setzen.
An der Eindhoven University of Technology arbeiten Verhaltensforscher zusammen mit Architekten und Städteplanern an einer Antwort auf die Frage: Welches Angebot würde Senioren dazu bewegen, in eine andere Wohnung zu ziehen? Meine Kollegen und ich versuchen, dies mittels Co-Creation-Experimenten zu erkunden. Dabei handelt es sich um spielbasierte Online-Umgebungen, bei denen Senioren Wohnentscheidungen treffen können.

Senioren sind bereit, umzuziehen, wir müssen nur ihre Trade-Offs kennen.
Ioulia Ossokina
Stadtökonomin und Dozentin für Bautechnik Eindhoven University of Technology

Bänke zum Ausruhen

Wir verrichten auch Forschung anhand von Big Data. Dabei betrachten wir nicht nur Wohnwünsche. Genauso interessant ist es zu wissen, was Senioren aufzugeben bereit sind im Gegenzug für etwas anderes. Ökonomen bezeichnen dies als Tradeoffs. Die Gruppe der 55- bis 75-Jährigen möchte beispielsweise in einer kleineren Wohnung ohne Garten wohnen, wenn sie in Bezug auf andere Wohnungs- und Umgebungseigenschaften etwas hinzugewinnt. Neben einer komfortablen Wohnung legen sie vor allem Wert auf die Nähe öffentlicher Verkehrsmittel und Einrichtungen. Sie wünschen sich einen nicht allzu großen Wohnkomplex, einen Gemeinschaftsraum im Gebäude und einen eigenen Parkplatz. Auch der öffentliche Raum ist sehr wichtig. Bänke zum Ausruhen, Grün in der Umgebung und ein gut begehbarer Spazierweg machen die Wohnung attraktiver.

Es ist natürlich nicht immer möglich, in einem einzigen Entwurf all diese Wohnwünsche unterzubringen. Aus unseren Experimenten und Studien wissen wir, welchen Wert Senioren Aspekten ihrer Wohnung und der Umgebung beimessen. Auf diese Weise können wir berechnen, welchen Wert die Senioren mit den verschiedenen Eigenschaften verbinden. So wissen wir beispielsweise, dass ein Zugang über eine Außengalerie die Attraktivität einer Wohnung um fünfzehn Prozent senkt. Ist ein Galerie-Zugang unvermeidlich, könnte man als Entwickler nach einem Ausgleich dafür  suchen, beispielsweise durch einen Gemeinschaftsraum im Gebäude. Ein solcher Raum erhöht den Wert nämlich um 20 Prozent. Wenn wir die Trade-offs kennen, wird es möglich, Kombinationen mit dem höchsten Wohnwert zu finden. So können Gebietsentwickler passende Wohnkonzepte entwickeln, die verschiedene physische und finanzielle Rahmenbedingungen erfüllen und außerdem den höchstmöglichen Wohnkomfort für Senioren bieten."

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