Mittelgroß bedeutet nicht mittelmäßig
Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden steigt der Druck auf die kleineren Großstädte. Die großen Großstädte sind so beliebt, dass die Preise dort sehr stark gestiegen sind und das Immobilienangebot nicht mit der Nachfrage Schritt halten kann. Das führte dazu, dass auch die Beliebtheit der kleineren Großstädte als Wohnort wie auch als Standort für Unternehmen gestiegen ist. Für diese Nachfrage muss Platz geschaffen werden. Das gilt aber auch für zahlreiche andere Aufgaben wie Mobilität, die Energiewende und Grünflächen. Auch soziale Fragen wie Lebensqualität und Inklusion müssen berücksichtigt werden. Wie gehen die Städte mit diesen Fragen um? In den Niederlanden befasst sich vor allem die G40, ein Zusammenschluss von 40 Gemeinden mit mehr als 100.000 Einwohnern von Maastricht bis Groningen, mit dieser Problematik. Von der Größe her liegen sie unter den G5 der Niederlande: Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht und (seit neuestem) Eindhoven.
Paul Depla ist neben seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Breda auch Vorsitzender der G40. Er stellt fest, dass es vielen Städten dieser Größe in den Niederlanden gut geht: „Es ist noch gar nicht so lange her – zur Zeit der gezielten Großstadtpolitik der Regierung in den 1990er-Jahren –, dass viele kleinere Großstädte in ihrer Entwicklung ins Stocken gerieten. In den letzten Jahren hat sich ihre Position erheblich verändert. Sie sind zu wirtschaftlichen und kulturellen ‚Motoren‘ geworden. Daraus ergibt sich aber auch Verantwortung: Die G40 muss zur Stärke der Niederlande als Ganzes beitragen. Die nationale Regierung erwartet von uns ausdrücklich, dass wir zum Beispiel einen Beitrag zum Wohnungsbau leisten. Wir übernehmen diese Aufgabe gerne.“
Wachstumskaskade
BPD-Marktforscher Dr. Christian von Malottki sagt, dass das Bild in Deutschland ähnlich ist. Allerdings wird die Hierarchie der Städte hier anders benannt als in den Niederlanden: „In Deutschland gibt es die so genannten Top-7 Städte, das sind die echten Metropolen wie Berlin, Hamburg und München. Städte wie Hannover und Leipzig haben zwar mehrere hunderttausend Einwohner, fallen aber noch nicht in diese Kategorie. Wir zählen sie zu den B-Städten mit einer etwas geringeren Bedeutung. Alle diese B-Städte sind aber Großstädte mit über 100.000 Einwohnern. Wenn wir einen korrekten Vergleich mit den G40 in den Niederlanden anstellen wollen, dann entsprechen sie in Deutschland den kleineren Großstädten mit 100.000 bis 400.000 Einwohnern.“ Auch in Deutschland stehen diese Städte hinsichtlich des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums überwiegend gut da, wobei es große regionale Unterschiede geben kann: „Die Metropolen wie Frankfurt können das Wachstum schon lange nicht mehr selbst bewältigen – wegen fehlender Flächen, zu hoher Preise –, sodass die Städte im Umland einen Teil der Dynamik auffangen. Und auch ihnen gelingt dies nicht immer hundertprozentig, sodass auch die noch entfernteren kleineren Städte davon profitieren können. Eigentlich sehen wir eine ganze Wachstumskaskade, die sich über die Regionen ausbreitet.“
Blick über die Stadtgrenzen hinaus
Während die großen Großstädte selbst für ihr Wachstum sorgen können, sind die kleineren Großstädte für das Erreichen ihrer Ziele grundsätzlich auf die Zusammenarbeit mit dem Umland angewiesen. Henri de Groot, Forscher an der Freien Universität Amsterdam, beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit regionaler Entwicklung und meint dazu: „In den Niederlanden sind die Gemeinden zu klein und die Provinzen zu groß, um die bestehenden Aufgaben zu bewältigen. Wohnungs- und Arbeitsmärkte machen nicht an den Gemeindegrenzen halt. Auch die Mobilität erfordert eine umfassendere Betrachtungsweise.
Es geht also um die Ebene dazwischen: die kleineren Großstädte mit ihrem festen Umland, ihrem Daily Urban System.“ De Groot stellt fest, dass erste zaghafte Erfolge bei der Überwindung der Gemeindegrenzen und der Einbeziehung der Region erzielt werden. „Zum Beispiel in der Metropolregion Amsterdam, aber auch in Eindhoven, Zwolle und der Region Achterhoek in der Provinz Gelderland nahe der deutschen Grenze, wo jetzt durch regionales Monitoring erfasst wird, wie es um das Gebiet steht.“
Depla unterstützt diesen Ansatz aufgrund seiner eigenen Erfahrung in der Praxis: „Es geht um die Qualität der gesamten Region und die Zusammenarbeit zwischen Behörden, Wohnungsunternehmen und Marktparteien – und nicht zu vergessen den Einwohnern und Unternehmern.“ Die kürzlich in den Niederlanden erstellten Regionalen Investitionsagenden (RIA) sind nach Ansicht von Depla ein gutes Beispiel für diesen gemeinsamen Ansatz: „Ohne dafür eine neue Verwaltungsorganisation auf die Beine zu stellen, konnten wir diese Agenda zusammen mit den Gemeinden in und um Breda ausarbeiten. Doch zunächst mussten wir unsere Hausaufgaben machen und der Regierung gegenüber eine einheitliche Position vertreten.“ Dann ging es weiter: Die RIA Breda wurde mit der RIA Brabant Mitte verbunden, die für neun kooperierende Gemeinden in der Mitte der Provinz Nordbrabant erstellt wurde. Diese beiden RIAs dienten als Input für die Urbanisierungsstrategie von Tilburg und Breda. Das Ziel ist eine Metropole mit einer großen Vielfalt an Stadt- und Naturflächen. Depla: „Wenn der erste Dominostein fällt, kommt auch der Rest in Bewegung.“
Keine Kluft entstehen lassen
Für die kleineren Städte besteht die Kunst vorerst darin, das begonnene Wachstum beizubehalten. Dr. Christian von Malottki rät den Städten, mit Bedacht zu wachsen: „Eine Stadt wie Leipzig erlebt jetzt Jahr für Jahr ein hohes Bevölkerungswachstum, aber es wäre nicht von Vorteil, weiteres Wachstum mit plan- und zügelloser Suburbanisierung zu verbinden. Das passt nicht zu der Identität und Ausstrahlung von Leipzig.“ Es geht auch darum, Chancen zur Entwicklung von Zentren im Umland zu ergreifen, wenn sie sich bieten. „Die Entwicklung des Emscherparks im Ruhrgebiet durch verschiedene kooperierende Kommunen – mit der späteren Wahl zur Kulturhauptstadt Europas als zusätzlichem Schub – ist dafür ein gutes Beispiel. Das zeigt, dass auch ‚schwächere‘ Städte einen Wandel schaffen können. Die Region hat einen starken thematischen Schwerpunkt auf der Wiederverwendung des industriellen Erbes, was es ihr ermöglicht hat, die Gunst der Stunde zu nutzen und ein Gebiet zu schaffen, das Besucher und auch viele neue Einwohner anzieht.“
Paul Depla plädiert für einen langfristigen Ansatz mit einer aktiven Rolle der Gemeinde: „Vor vier Jahren hat sich Breda das Ziel gesetzt, 6.000 neue Wohnungen zu bauen, und wir werden dieses Ziel bis 2023 erreichen. Aber gleichzeitig haben wir schon jetzt den Wohnungsbau für die nächsten zwanzig Jahre im Blick und stellen uns auf die Haushalte, die dann in der Stadt leben wollen, ein. Wir investieren als Stadt auch selbst in diesen Bereich, zum Beispiel durch den Kauf von Grundstücken.“ Depla weist jedoch darauf hin, das nicht alles optimal läuft, und plädiert für mehr soziale Gleichheit und Inklusion. Er sieht, wie Städte mit zwei Gesichtern entstehen. In Breda gibt es zum Beispiel einen großen Unterschied zwischen dem Bredaer Norden und dem Rest der Stadt. „Die Kluft wird größer. Das Durchschnittsalter ist im Norden vier Jahre niedriger als im Süden der Stadt. Solche Unterschiede sind viel zu groß. Neben all den physischen Aspekten müssen wir uns deshalb auch explizit mit Themen wie Gesundheit und Lebensqualität befassen.“
Jede Stadt hat ihren eigenen Schwerpunkt
Henri de Groot sieht eine wichtige Herausforderung in der weiteren Stärkung der Region als eine Einheit, die sich selbst behaupten kann: „Die kleineren Großstädte können sicherlich einer positiven Beitrag für die Niederlande als Ganzes leisten, aber sie arbeiten jetzt oft auf freiwilliger Basis zusammen. In dieser Unverbindlichkeit liegt auch eine Schwäche.“ Nach Ansicht des Amsterdamer Wissenschaftlers stellt sich nämlich die Frage: Wo werden dann die politisch heiklen und schwierigen Aufgaben gelöst? Das gilt beispielsweise für die Verteilung von Sozialwohnungen und damit der sozioökonomisch Benachteiligten in einer Region. „Wir wollen Wohlstand für alle erreichen. Das erfordert auch eine regional gerechte Verteilung der Freuden und Lasten.“ In diesem Zusammenhang müssen die Gemeinden selbst ihre eigenen Entscheidungen für die Zukunft treffen und diese mit den anderen Gemeinden in ihrer Region koordinieren, meint de Groot: „Nicht alles kann überall realisiert werden. Ein gutes Beispiel ist die Stadt Haarlem, die sich mit der Frage konfrontiert sah, ob sie mehr Gewerbegebiete ausweisen sollte, um Unternehmen anzuziehen. Sie entschloss sich letztlich bewusst dagegen und argumentierte: Unsere Einwohner arbeiten bereits andernorts in der Region, wir wollen uns lieber darauf konzentrieren, ihnen einen Rahmen zu bieten, um angenehm zu wohnen. Auf diese Weise können die Gemeinden zu einem gegenseitigen Austausch von Funktionen in der Region kommen.“
Wohlstand für alle erfordert auch eine regional gerechte Verteilung der Freuden und Lasten.
Möglichkeiten innerhalb der Region aufteilen
Die regionale Zusammenarbeit kann in der Tat dazu führen, dass mittelgroße Städte Entscheidungen treffen müssen, so Dr. Christian von Malottki: „Es hat wenig Sinn, wenn eine kleinere Großstadt versucht, alle Funktionen anzuziehen – die sogenannten Vollsortimenter [Städte, die wie ein Supermarkt alle Funktionen und Sektoren abdecken wollen, Anm. d. Red.]. Es ist besser, die Möglichkeiten innerhalb der Region aufzuteilen.“ Als Beispiel nennt von Malottki die Impulsregion, in der Erfurt, Jena und Weimar zusammenarbeiten. „Die Stadt Erfurt hat ihren Schwerpunkt in den Bereichen Handel und Medien, Jena in der Technik und Weimar in der Kultur. Auch die umliegenden kleineren Gemeinden sind einbezogen.“ Welche Form der Zusammenarbeit in Deutschland gewählt wird, ist nicht von vornherein festgelegt: „Wir sehen unterschiedliche Modelle: von der Zusammenarbeit des Regionalverbandes im Ruhrgebiet – einem eher freiwilligen Ansatz – bis hin zu Hannover, wo Stadt und Umland zu einem einzigen Landkreis, einer echten regionalen Verwaltungseinheit als gemeindeübergreifender Ebene zusammengewachsen sind.“ Das ist eine interessante Perspektive für die kleineren Großstädte in Deutschland und den Niederlanden: sich auf die eigenen Qualitäten und Möglichkeiten zu besinnen und diese mit einer intensiven Zusammenarbeit in einem regionalen Kontext zu verbinden.