Wege aus dem Konkurrenzkampf
„Ja, allmählich ist der verfügbare Raum erschöpft“, meint Monique Stam-de Nijs, Beigeordnete für Raumordnung in Heerhugowaard in der niederländischen Provinz Nordholland. „Alle Zweckbestimmungen konkurrieren miteinander. Das merken wir auch hier.“ In Heerhugowaard wird zurzeit das Bahnhofsgebiet entwickelt. Stam-de Nijs: „Eigentlich sollte hier eine neue Gleisunterführung gebaut werden, um den Verkehrsfluss zu verbessern. Aber als wir diesen Plan ausarbeiten wollten – zusammen mit Anwohnern, den mittelständischen Unternehmern, der niederländischen Bahn und dem Infrastrukturunternehmen ProRail –, entwickelte sich eine Eigendynamik. Wir konnten verschiedene Dinge miteinander verbinden: Verkehr, Verbesserung des öffentlichen Raumes, mehr Grün, Wohnungsbau und neue Einrichtungen. Die Akteure hatten unterschiedliche Interessen, doch sie haben zusammengearbeitet, die Synergien genutzt und dadurch ein gemeinsames Ziel erreicht.“
Was unvereinbar scheint, braucht nicht immer unvereinbar zu sein
Was unvereinbar scheint, braucht nicht immer unvereinbar zu sein, merkte Stam-de Nijs. Vor allem dann nicht, wenn die Beteiligten über die Gemeindegrenze hinausblicken und selbst zu investieren bereit sind. Stam-de Nijs ist eine große Befürworterin der NOVI-Allianz, einer Initiative des Verbandes der niederländischen Projektentwickler NEPROM und anderen Organisationen zur Ausgestaltung der Nationalen Raumordnungsvision (NOVI), in der die Regierung die Grundzüge der Raumordnung für die kommenden Jahre festlegen will. „Ziel ist es, mit verschiedenen Akteuren wie Behörden, Naturschutz- und Umweltorganisationen sowie Verkehrsbetrieben regional zusammenzuarbeiten, gemeinsam mit regionalem Blickwinkel die Fragestellung zu untersuchen und als öffentliche Hand kohärente Entscheidungen mit langfristiger Perspektive zu fällen.“
In Möglichkeiten denken, nicht in Gegensätzen
Denken in Kombinationen, in Möglichkeiten – das ist auch der Grundgedanke von Panorama Niederlande (2018), in dem das Beratergremium der Regierung für Raumordnungsfragen seine Zukunftsvision für die Niederlande formuliert hat. In dieser Studie werden die Aufgaben, vor denen das Land steht – unter anderem Klimawandel, Agrarreform, Wohnungsbau und Energiewende – nicht als Gegensätze betrachtet, sondern als Möglichkeiten. Der Wasserhaushalt und die Agrarreform lassen sich mit Naturentwicklung kombinieren; Maßnahmen im Zuge des Klimawandels und Stadtentwicklung greifen ineinander. Die Energiewende ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch eine Chance, verschiedene Dinge wohlüberlegt miteinander zu verbinden. „Die Niederlande sind ein dicht bevölkertes Land, deshalb können wir die Dinge nicht isoliert betrachten“, erläutert der Regierungsberater für die physische Lebensumgebung und Landschaftsarchitekt Berno Strootman.
Deshalb liegt auch bei Panorama Niederlande der Schwerpunkt auf der Region. Strootman: „Das ist die ideale Ebene zur Verbindung der Aufgaben in den Bereichen Wasser, Infrastruktur, Natur und Wohnungsbau. Auf regionaler Ebene kommen die kurz- und langfristige Perspektive sowie die unterschiedlichen Verwaltungsebenen zusammen.“ Er nennt das Hembrug-Gelände auf der Grenze zwischen Amsterdam und Zaandam als gelungenes Beispiel. „Dort kommt alles zusammen: Erhalt von Kulturerbe, neue Begrünung, Bauen innerhalb des Stadtgebiets, Bodensanierung, Nachhaltigkeit und Klimawandel.“ Die verschiedensten Ziele werden dort auf einen neuen, gemeinsamen Nenner gebracht. „Dafür müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Ein Beispiel, bei dem das nicht gelungen ist, ist der Plan für den Wieringerrandsee, an dem ich als Planungsingenieur mitgearbeitet habe. Auch das war eine Kombination aus Wasserauffangbecken, Natur, Erholungsgebiet und Wohnungsbau, aber das Vorhaben scheiterte. Es gab lokal zu wenig Unterstützung, zu wenig Nachfrage nach Wohnraum, Probleme mit der Finanzierung und es mangelte am politischen Willen.“
Aufforderung an die Regierung
Panorama Niederlande bürdet den Regionen nicht die gesamte Last auf. Die Regierungsberater fordern die Kommunen, die Provinzen und die Regierung dazu auf, gemeinsam für jede Region einen deutlich umrissenen regionalen Raumordnungsrahmen zu erarbeiten, in dem Prioritäten gesetzt werden. Die Reform der Landwirtschaft – um nur einen der heiklen Punkte zu nennen – muss auch auf Landesebene entschieden werden. Befürchtet Strootman nicht, dass das wieder zu Demonstrationen aufgebrachter Landwirte führen wird? „Natürlich haben die verschiedenen Interessengruppen ihre Wünsche und Ansprüche. Mehr Wohnraum! Oder: keine Beschränkungen für die Landwirtschaft! Aber die Lösung ist nicht über Interessengruppen zu finden, sondern durch eine Kombination mit anderen Aufgaben.“
Dabei spielt die Regierung eine Rolle, denn Kohärenz ergibt sich nicht von allein. „Deshalb haben wir die Regierung aufgefordert, sich einzubringen“, erklärt Strootman. „Wir müssen große Aufgaben und langund kurzfristige Ziele miteinander kombinieren. Das ist eindeutig eine Sache für Den Haag. Der letzte Bericht zum Fortschritt der NOVI von Ende April zeigt, dass dieser Appell angekommen ist. Wir dürfen aber keinen Schritt rückwärts machen. Eine zentrale Steuerung durch die Regierung passt nicht mehr in unsere Zeit. Die Regierung sollte jedoch klare Ziele setzen, die zugehörigen finanziellen Mittel bereitstellen und sich auf regionaler Ebene deutlich einbringen.“
Die Lösung wird nicht über Interessengruppen gefunden, sondern durch eine Kombination mit anderen Aufgaben.
Kurze oder lange Leine
Angesichts der zunehmenden Beanspruchung der Flächen sieht nicht mehr jeder eine kurze Leine als problematisch an. So wünscht sich der Delfter Professor Peter Boelhouwer wieder einen echten Wohnungsbauminister mit „viel Geld und umfassenden Kompetenzen.“ Einen Minister, der „etwas anstoßen kann“, wie er am 22. Mai 2020 in der Tageszeitung De Volkskrant erklärte. „Jeder kämpft jetzt um denselben Raum. Wir wollen mehr Wasserrückhaltekapazität, mehr Natur, mehr extensive Kreislauflandwirtschaft, mehr Energieerzeugung aus Windkraft und Solaranlagen. Das sind Aufgaben auf Landesebene, die nicht zankenden lokalen Parteien überlassen werden sollten.“
Boelhouwer ist für klare Entscheidungen. Beispielsweise für die Umsiedlung des Flughafens Schiphol in die Nordsee, um zwischen Amsterdam und Leiden neue Natur und Wohngebiete anlegen zu können. Oder für den Bau von Wohnungen in der Mitte des Landes im Polder Rijnenburg bei Utrecht. Der dort geplante Energiepark könnte im strukturschwachen Ostgroningen angelegt werden, denn dort ist viel Platz. Solche Entscheidungen muss die Regierung treffen, findet Boelhouwer. Keine wachsweichen Kompromisse auf regionaler Ebene, sondern eindeutige Beschlüsse.
Flächen miteinander teilen, statt sie aufzuteilen
Wir legen dieses Dilemma Peter Glas vor, der als Delta-Kommissar für die Umsetzung des Nationalen Deltaprogramms verantwortlich ist. Das Programm soll die Niederlande vor Überschwemmungen und den Folgen des Klimawandels schützen. Räumliche Anpassungen sind ein wichtiger Bestandteil. Werden dabei Entscheidungen gefällt oder Kompromisse gesucht?
Glas: „In den Niederlanden hat jeder Quadratmeter eine feste Verwendung, von allen Seiten werden Ansprüche auf die Flächen erhoben. Wenn daran etwas geändert werden soll, kommt es leicht zu Streitigkeiten. Ich finde das wenig hilfreich. Werden bei einem Streit Flächen untereinander aufgeteilt, gibt es Gewinner und Verlierer. Werden die Flächen dagegen miteinander geteilt, können Funktionen aufeinandergestapelt werden. Dann wird die dritte Dimension genutzt. Das setzen wir in den Niederlanden noch nicht so gut um, wie wir glauben.“
In den Niederlanden hat jeder Quadratmeter eine feste Verwendung, von allen Seiten werden Ansprüche auf die Flächen erhoben.
Nicht nur eindimensional denken
Der Hochwasserschutz wurde lange Zeit sehr eindimensional behandelt: Wir bauten einen Deich und der Rest wurde dem untergeordnet. Aber diese Denkweise ist schon vor geraumer Zeit einem intelligenteren Ansatz gewichen. Das Programm Raum für Flüsse (2007-2019) kombinierte den Hochwasserschutz mit Naturentwicklung und Erholung. In kleinerem Maßstab gibt es inzwischen innerhalb und außerhalb des Deltaprogramms zahlreiche gelungene Beispiele dafür, wie Maßnahmen im Zuge des Klimawandels und andere Aufgaben, beispielsweise in Städten, miteinander kombiniert werden. Beim Benthemplein in Rotterdam wird Regenwasserrückhaltung mit einer Verbesserung des öffentlichen Raumes verbunden. Nieuwdorp in der Provinz Zeeland hat eine echte Klimastraße mit Nullenergiehäusern und einer Einrichtung, die für Starkregen und Trockenheit ausgelegt ist. „Wir finden immer eine Lösung“, lautet die Schlussfolgerung von Glas.
„Den historischen Kampf gegen das Wasser haben wir gewonnen, weil es um einen gemeinsamen Feind ging. Heute arbeiten wir mehr mit dem Wasser anstatt gegen das Wasser. Das ist, denke ich, der richtige Weg. Es bedeutet, dass Kreativität gefragt ist, aber auch Führungsqualitäten: Was lässt sich hier noch realisieren? Und wie kann ich die Beteiligten davon überzeugen? Über Hochwasserschutz gibt es nichts zu verhandeln, aber er lässt sich durchaus mit anderen Aufgaben kombinieren.“ Welche Parallelen gibt es zwischen dem Kampf um den Raum und dem Kampf gegen das Wasser? „Es geht um Solidarität: Die Behörden und die Region müssen gemeinsam handeln“, findet Glas. Auch bei der Nutzung des Raumes sollte die gemeinsame Aufgabe im Mittelpunkt stehen: „Suchen Sie nach Möglichkeiten, um mehr als gedacht zu erreichen. Setzen Sie sich mit Experten zusammen, einschließlich der Beteiligten vor Ort, und schalten Sie öffentliche Institutionen wie Wasserverbände und Universitäten ein. Das mag wie eine Kompromisssuche aussehen, ist aber in Wirklichkeit viel mehr. Es geht um Planungsstärke.“
Informelle Prozesse können helfen
Der niederländische Begriff „poldern“ für das Aushandeln von Kompromissen ist Guido Spars geläufig. Er ist Professor für Ökonomie des Planens und Bauens an der Bergischen Universität Wuppertal und zugleich Berater der Bundesregierung. „Wir sehen, wie das in den Niederlanden geht, und auch in Deutschland nehmen solche Formen kooperativer Planung zu. Reden, verhandeln, gemeinsam die beste Lösung finden. Das kann beim Wohnungsbau zu Zeitersparnis führen. Aber die Planungsabläufe sind in Deutschland traditionell recht starr, wodurch wir immer wieder in eine Sackgasse geraten. Informelle Prozesse könnten uns helfen, davon bin ich überzeugt.“
Auch in Deutschland wird der Kampf um den Raum geführt, wenn auch nicht überall mit gleicher Intensität. Der zunehmenden Flächenknappheit in Metropolen wie Hamburg, München und Berlin stehen strukturschwache ländliche Regionen mit anderen Problemen gegenüber. Spars: „Der Konkurrenzkampf ist dort am stärksten, wo ein hoher Wohnungsbedarf mit einer restriktiven Raumordnungspolitik zusammentrifft, bei der die Politik den Raum nicht zu geben bereit ist.“ In Deutschland liegt die Entscheidung, wie viel Raum eine Kommune bereitstellen kann, auf Länderebene. Das ist in Bayern anders als in Nordrhein-Westfalen. Spars: „Gemeinden, die dem Wohnungsbau mehr Platz einräumen wollen, stoßen an Grenzen. Es darf bundesweit – aus ökologischen und Nachhaltigkeitsgründen – maximal 30 Hektar pro Tag an Neubaufläche freigegeben werden.“
Regionale Initiativen
Von einer Debatte über Steuerung durch den Bund kann schon allein wegen der Größe Deutschlands keine Rede sein. Spars: „Nordrhein-Westfalen ist mit den Niederlanden vergleichbar. Wenn schon auf Landesebene keine Strategie zustande kommt, was soll die Bundesregierung dann tun?“ Die Bundesregierung hat zwar sogenannte Leitbilder als Orientierungshilfen für die Stärkung der regionalen Wettbewerbsfähigkeit und die nachhaltige Entwicklung des Raumes ausgearbeitet, die Entscheidungshoheit liegt jedoch bei den Ländern. Es wird allerdings nach einer Verbesserung der Rechtsinstrumente gesucht.
Spars war Mitglied der Baulandkommission, die an einer Verbesserung des Baugesetzbuches mit dem Ziel einer schnelleren Vergabe von Bauland für den Wohnungsbau arbeitete. Bemerkenswerterweise erwartet auch Spars mehr von regionalen Initiativen. „Mit der Regionalplanung haben wir bereits gute Erfahrungen gemacht, unter anderem in der Region Hannover. Mehrere Städte bilden eine Region und verzichten auf bestimmte eigene Rechte, um so den Entscheidungsprozess zu beschleunigen.“ Trotzdem geht es seiner Meinung nach nicht schnell genug. „Ich befürchte manchmal, dass es schon zu spät ist. Die Menschen ziehen aus der Stadt weg, weil das Warten zu lange dauert, die Preise zu hoch sind und das Angebot zu gering ist. Sie suchen lieber anderswo eine Wohnung.“
Ich befürchte manchmal, dass es schon zu spät ist.
Keine Zeit zu verlieren
Die Suche nach gemeinsamen Interessen innerhalb einer Region kostet Zeit, kann aber unter dem Strich zu Zeitersparnis führen. Stam-de Nijs drückt es folgendermaßen aus: „Wir müssen den Raum miteinander finden. Es genügt nicht mehr, nur die eigenen Interessen zu verfolgen. Die eigenen Interessen müssen mit denen anderer anhand einer klaren Zukunftsvision verbunden werden. Das ist nicht einfach, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist.“